Unsres Herrn letzter Ruf vom Kreuze. (Charles H. Spurgeon)

“Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände. Und als Er das gesagt, verschied Er.“
Lk. 23,46.

Dies sind die Sterbeworte unsres Herrn. Es ist nicht nötig, euch daran zu erinnern, dass der Worte Christi am Kreuze sieben waren. Lasst mich sie euch wiederholen. Das erste war, nachdem sie Ihn ans Kreuz genagelt hatten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Dies Wort hat uns Lukas aufbewahrt. Später, als einer der beiden Übeltäter zu Jesu sagte: „Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst,“ antwortete ihm Jesus: „Wahrlich, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Auch dieses Wort hat Lukas sorgfältig verzeichnet. Später, als unser Herr in seiner großen Not seine Mutter gebrochenen Herzens bei dem Kreuze stehen und mit unaussprechlicher Liebe und voll Kummer zu Ihm aufblicken sah, sprach Er zu ihr: „Weib, siehe, das ist dein Sohn!“ und zu dem Lieblingsjünger: „Siehe, das ist deine Mutter!“ und so verschaffte Er ihr ein Heim, nachdem Er von ihr gegangen war. Diese Äußerung finden wir nur bei Johannes. Das vierte und mittelste der sieben Worte war: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Dies war der Höhepunkt seines Leidens, der Zentralpunkt all seiner Not. Dieses furchtbarste Wort, das je von den Lippen eines Menschen kam, das die Quintessenz seines unermesslichen Leidens ausdrückt, ist schön in vierter Stelle angebracht, als ob es als seine Leibwache drei vor sich und drei hinter sich haben müsse. Es spricht davon, dass ein guter Mann, ein Sohn Gottes, der Sohn Gottes, von seinem Gott verlassen war. Dieses mittelste Wort von den sieben findet sich bei Matthäus und Markus, aber nicht bei Lukas und Johannes; aber das fünfte Wort hat Johannes aufbewahrt: „Mich dürstet!“ Das kürzeste, aber nicht ganz das schwerste der Worte des Meisters, obgleich es vom leiblichen Gesichtspunkt aus das schwerste von allen war. Johannes hat auch einen andren köstlichen Ausspruch Jesu am Kreuz verzeichnet: „Es ist vollbracht!“ Dies war bis auf eines das letzte, die Zusammenfassung seines ganzen Lebenswerkes, denn Er hatte nichts ungeschehen lassen; das ganze Gewebe der Erlösung war gleich einem Kleide vollkommen fertig geworden. Nachdem Er gesagt hatte: „Es ist vollbracht!“ sprach Er sein allerletztes Wort: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände,“ welches ich zum Text erwählt habe, darauf ich aber noch nicht sogleich eingehen will.

Es ist von verschiedenen Schreibern sehr viel über diese sieben Worte am Kreuz gesagt worden, und ich kann zu dem, was sie gesagt haben, nichts hinzufügen, zumal sie so gern dabei verweilen, und hier sind es die ältesten Schreiber, die man die Römische Schule nennen könnte, die in ihrer tiefen Andacht, die sie jedem Buchstaben widmen, selbst von protestantischen Schreibern nicht übertroffen werden, und sie holen zuweilen einen neueren und reicheren Sinn heraus, als den weit kühleren Gemütern der modernen Kritiker, die in der Regel mit Maulwurfsaugen gesegnet sind, eingefallen ist. Die neuere Kritik könnte gleich der neueren Theologie in den Garten Eden versetzt werden, und sie würde doch keine Blumen sehen. Sie ist gleich dem Scirocco, welcher versengt und brennt und ohne jeglichen Tau oder jegliche Salbung; sie ist der Gegensatz dieser köstlichen Dinge und erweist sich als ohne Segen für die Menschen.

Was nun diese sieben Worte vom Kreuz anbetrifft, so haben viele Ausleger Lehren daraus gezogen, die sich auf sieben Pflichten beziehen. Hört zu. Als der Herr sagte: „Vater, vergib ihnen,“ sagte Er eigentlich zu uns: „Vergebt euren Feinden.“ Selbst wenn sie euch verächtlich behandeln und euch schreckliche Qualen bereiten, seid bereit, ihnen zu vergeben. Seid gleich dem Sandelholzbaum, der die Axt parfümiert, die ihn fällt. Seid lauter Sanftmut und Freundlichkeit und Liebe und lasst dies euer Gebet sein: „Vater, vergib ihnen.“

Die nächste Pflicht wird dem zweiten Ruf entnommen, nämlich die der Buße und des Glaubens an Christum, denn Er sagte zu dem Übeltäter: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Habt ihr, gleich ihm, eure Sünde bekannt? Habt ihr seinen Glauben und seinen Gebetsgeist? Dann werdet ihr, wie er, angenommen werden.

Als unser Herr in seinem dritten Wort zu seiner Mutter sagte: „Weib, siehe, dein Sohn!“ lehrte Er uns die Pflicht kindlicher Liebe. Keinem Christen darf die Liebe zu seiner Mutter, zu seinem Vater oder zu irgend einem Verwandten, den Gott uns zu beachten gegeben hat, fehlen. O, bei der Liebe Christi zu seiner Mutter, entmensche sich kein Mensch dadurch, dass er seiner Mutter vergisst. Sie hat dich geboren; trage sie in ihrem Alter und erfreue sie bis zu ihrem letzten Augenblick.

Jesu vierter Ruf lehrt uns die Pflicht, an Gott festzuhalten und Ihm zu vertrauen: „Mein Gott, mein Gott!“ Sieh’, wie Er mit beiden Händen Ihn umklammert. Er kann es nicht ertragen, von Gott verlassen zu sein; alles andre macht Ihm, im Vergleich zu diesem Weh, nur wenig Schmerzen. So lerne es, dich an Gott zu klammern und Ihn mit der Doppelhand des Glaubens zu umfassen, und wenn du meinst, dass Er dich verlassen habe, so rufe Ihm nach und sprich: „Zeige mir an, warum Du mit mir haderst, denn ich kann es nicht ertragen, ohne Dich zu sein.“

Der fünfte Ruf: „Mich dürstet!“ lehrt uns, auf die Erfüllung des Wortes Gottes großes Gewicht zu legen. „Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, dass die Schrift erfüllet würde, spricht Er: „Mich dürstet!“ Gib in allem deinem Kummer und in deiner Schwäche acht darauf, das Wort deines Gottes zu bewahren und der Vorschrift zu gehorchen; lerne die Lehre und freue dich der Verheißung. Wie dein Herr, so beachte du selbst in kleinen Dingen das Wort des Herrn.

Jener sechste Ruf: „Es ist vollbracht!“ lehrt uns vollkommenen Gehorsam. Halte alle Gebote Gottes; lass keinen Befehl aus; gehorche, bis du sagen kannst: „Es ist vollbracht.“ Verrichte dein Lebenswerk, gehorche deinem Meister, leide oder diene nach seinem Willen, aber ruhe nicht, bis du mit deinem Herrn sagen kannst: „Es ist vollbracht!“ „Ich habe vollendet das Werk, das Du mir gegeben hast.“

Und dieses letzte Wort: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände,“ lehrt uns Ergebung. Übergib alles, übergib Gott auf seine Forderung selbst deinen Geist. Stehe still und vollziehe eine völlige Übergabe an deinen Herrn und lass dies von Anfang bis zu Ende deine Losung sein: „In Deine Hände, mein Vater, befehle ich meinen Geist.“

Ich denke, dass dieses Studium der letzten Worte Christi euch interessieren wird; darum lasst mich noch ein wenig länger dabei verweilen. Diese sieben Worte vom Kreuz lehren uns auch etwas hinsichtlich der Eigenschaften und Ämter unsres Meisters. Es sind sieben Fenster von Achat und Tore von Karfunkeln, durch welche ihr Ihn sehen und euch Ihm nähern könnt.

Zuerst, möchtet ihr Ihn als Fürbitter sehen? Er ruft: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Möchtet ihr auf Ihn als auf den König blicken? Dann hört sein zweites Wort: „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Möchtet ihr Ihn als einen zärtlichen Wächter sehen? Hört Ihn zu Maria sagen: „Weib, siehe, dein Sohn!“ und zu Johannes: „Siehe, deine Mutter!“ Wollt ihr in den dunklen Abgrund der Angst seiner Seele dringen? Hört Ihn: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Wollt ihr die Wirklichkeit und die Tiefe seiner leiblichen Leiden verstehen? Dann hört Ihn sagen: „Mich dürstet!“ denn es liegt etwas Außerordentliches in der Qual des Durstes, wenn er durch das Fieber blutender Wunden verursacht wird. Männer auf dem Schlachtfelde, die viel Blut verloren haben, werden vom Durst verzehrt, und sie sagen auch, dass das die größte Qual von allen ist. Siehe den Dulder in seinen Leiden und verstehe, wie Er mit dir fühlen kann, der du leidest, seitdem Er so viel am Kreuz erduldet hat. Möchtet ihr Ihn als den Vollbringer eures Heils sehen? Dann hört seinen Ruf: „Es ist vollbracht!“ O, herrlicher Ton! Hier seht ihr den hochgelobten Vollender eures Glaubens. Und möchtet ihr dann noch einen weiteren Blick tun und verstehen, wie freiwillig sein Leiden war? Dann hört Ihn sagen, nicht als einen, der des Lebens beraubt ist, sondern als einen, der seine Seele der Hut eines andren übergibt: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“

Ist von diesen Worten vom Kreuz nicht vieles zu lernen? Gewiss, diese sieben Töne bilden eine wunderbare musikalische Tonleiter, wenn wir nur wissen, wie wir ihnen zuhören sollen. Lasst mich die Tonleiter wiederholen. Hier habt ihr zuerst Christi Gemeinschaft mit Menschen: „Vater, vergib ihnen.“ Er steht neben den Sündern und versucht es, sie zu verteidigen: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Hier ist sodann seine königliche Macht. Er öffnet dem Übeltäter des Himmels Tor und fordert ihn auf, einzutreten. „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Drittens siehe seine menschliche Verwandtschaft. Ein wie naher Verwandter ist Er uns! „Weib, siehe, dein Sohn!“ Gedenke, wie Er sagt: „Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, derselbe ist mein Bruder und Schwester und Mutter.“ Er ist Bein von unsrem Bein und Fleisch von unsrem Fleisch. Er gehört der menschlichen Familie an. So gewiss Er wahrer Gott vom wahren Gott ist, ist Er auch wahrer Mensch vom wahren Menschen, der nicht nur die Natur des Juden, sondern auch die des Heiden angenommen hat. Seiner Nationalität angehörend, sich aber über alle erhebend, ist Er der Mensch des Menschen, des Menschen Sohn.

Sieh’ Ihn dann unsre Sünden auf sich nehmen. Ihr sagt: „Welcher Ton ist das?“ Nun sie sind alle des gleichen Inhalts, aber dieser ganz besonders: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Weil Er unsre Sünden an seinem Leibe auf dem Holze trug, war Er von Gott verlassen. „Er hat Den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht,“ und deshalb der bittere Ruf: „Eli, Eli, lama asabtani?“ Siehe Ihn in jenem fünften Ruf: „Mich dürstet!“ wie Er nicht nur unsre Sünde, sondern auch unsre Schwäche und alle Leiden unsrer leiblichen Natur auf sich nimmt. Dann, wenn ihr sowohl seine Fülle wie seine Schwäche sehen wollt, wenn ihr seine Allgenugsamkeit wie seinen Schmerz sehen wollt, so hört Ihn rufen: „Es ist vollbracht!“ Welche wundervolle Fülle liegt in diesem Ton! Die Erlösung ist vollbracht; es ist alles vollständig; es ist alles vollkommen. Es ist nichts übrig geblieben, nicht ein Tropfen Bitterkeit in dem Becher voll Galle; Jesus hat ihn ganz geleert. Es ist kein Heller dem Lösegeld mehr hinzuzufügen; Jesus hat alles bezahlt. Siehe seine Fülle in dem Ruf: „Es ist vollbracht!“ Und dann, wenn du sehen möchtest, wie Er uns mit sich selber versöhnt hat, siehe den Mann, welcher ein Fluch für uns ward, mit einem Segen zu seinem Vater zurückkehren und uns mit sich nehmen, indem Er uns durch dieses letzte liebe Wort hinauf zieht. Christus geht zum Vater zurück, denn „es ist vollbracht,“ und ihr und ich, wir kommen durch sein vollkommenes Werk zum Vater.

Ich habe von den Tönen, die diese Harfe von sich gibt, nur zwei oder drei angeschlagen, aber es ist ein wundervolles Instrument. Wenn es keine Harfe von zehn Saiten ist, so ist es jedenfalls ein Instrument von sieben Saiten, und weder die Zeit noch die Ewigkeit wird imstande sein, alle Musik herauszuholen.

Ich erbitte mir nun für kurze Zeit eure Aufmerksamkeit für den Text selbst: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“

Seht ihr unsren Herrn? Er ist am Sterben und noch ist sein Angesicht den Menschen zugewandt in dem Wort, das Er ihnen zuruft: „Es ist vollbracht!“ Könntet ihr ein köstlicheres Wort finden, mit welchem Er euch in der Todesstunde „Adieu“ sagt? Er sagt euch, dass ihr euch nicht davor fürchten dürfet, dass sein Werk unvollkommen sei oder sich als ungenügend erweisen werde. Er versichert euch mit sterbenden Lippen: „Es ist vollbracht!“ Und nun ist Er mit euch fertig und wendet sein Angesicht wo anders hin. Sein Tagewerk, seine mehr als Herkulesarbeit ist vollbracht und der mächtige König will zurück zum Throne seines Vaters, und sein letztes Wort ist an seinen Vater gerichtet. Gedenke dieses Wortes und möchte es auch dein Wort sein, wenn du zu deinem Vater zurückkehrst! Diese Worte sind in Römischen Zeiten sehr viel gebraucht worden, aber sie haben deswegen noch nichts verloren. Sterbende pflegen sie lateinisch zu sagen: „In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum;“ und wenn sie selbst es nicht konnten, so ersuchte es wohl jemand anders an ihrer Statt. Es wurde so eine Art Zauberformel daraus gemacht, und so haben sie im Lateinischen ihre Lieblichkeit für unsre Ohren verloren; aber in unsrer Sprache enthalten sie für jeden Sterbenden köstliche Musik: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“

Es ist beachtenswert, dass die letzten Worte unsres Herrn ein Zitat aus der Heiligen Schrift waren. Dieser Ausspruch ist, wie ihr wisst, dem 31. Psalm und daselbst dem 6. Verse entnommen. Welch ein Beweis ist das davon, dass Christus voll war von der Bibel. Er gehörte nicht zu denen, welche wenig von dem Worte Gottes halten. Er war davon durchdrungen. Er konnte nicht einmal im Sterben sprechen, ohne die Schrift zu zitieren. David gibt das Wort: „In Deine Hände befehle ich meinen Geist; Du hast mich erlöset, Herr, Du treuer Gott.“ Nun, der Heiland änderte diese Stelle, weil sie sonst nicht ganz für Ihn gepasst hätte. Seht ihr, dass Er, um sie für sich passend zu machen, das Wort „Vater“ hinzufügen musste? David sagte: „In Deine Hände befehle ich meinen Geist;“ aber Jesus sagt: „Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Seliger Fortschritt! Er wusste mehr als David, denn Er war mehr der Sohn Gottes, als David es sein konnte. Er war in das Gebet mit „Vater.“ Aber dann nimmt Er etwas davon weg. Dies war nötig, denn wenngleich David hinzufügte: „Du hast mich erlöset,“ so war doch unser Meister nicht erlöst, denn Er war der Erlöser und Er hätte sagen können: „In Deine Hände befehle ich meinen Geist, denn ich habe mein Volk erlöst;“ aber Er tat das nicht, sondern wählte einfach den Teil, der auf Ihn passte und gebrauchte ihn als sein eignes Wort: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“ O, meine Brüder, ihr könnt nach allem nichts Besseres tun, als die Schrift zitieren, ganz besonders im Gebet. Keine Gebete sind so gut, wie die, welche voll sind vom Worte Gottes. Möchten alle unsre Reden mit Texten gewürzt sein! Ich wünschte, dass es mehr der Fall wäre.

So seht ihr denn, wie gut der Heiland die Schrift anwandte, und wie seine Waffe vom ersten Kampfe mit dem Teufel in der Wüste bis zu seinem letzten Kampf mit dem Tode am Kreuz beständig war: „Es stehet geschrieben!“

Nun komme ich zum Texte selber und will nur kurze Zeit darüber predigen. Lasst uns zuerst die Lehre von diesem letzten Ruf vom Kreuz lernen; lasst uns zweitens die Pflicht üben, und drittens lasst uns das Vorrecht genießen.

Lasst uns die Lehre lernen.

Welches ist die Lehre dieses letzten Wortes unsres Herrn Jesu Christi? Gott ist sein Vater, und Gott ist unser Vater. Er, der selber sagte: „Vater,“ sagte nicht für sich: „Unser Vater,“ denn der Vater ist in einem höheren Sinne Christi Vater, als Er unser Vater ist; aber dennoch ist Er Christi Vater nicht wirklicher, als ER unser Vater ist, wenn wir an Jesum glauben. „Ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Jesum Christum.“ Jesus sagte zu Maria Magdalena: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Glaubet der Lehre, dass Gott der Vater seines Volkes ist. Wie ich euch schon früher gewarnt habe, so warne ich wieder vor der Lehre von der allgemeinen Vaterschaft Gottes, denn sie ist eine Lüge und ein tiefer Betrug. Sie durchbohrt erstens das Herz der Lehre von der Kindschaft, welche in der Schrift gelehrt wird, denn wie kann Gott Menschen adoptieren, wenn sie bereits alle seine Kinder sind? Zweitens durchbohrt sie das Herz der Lehre von der Wiedergeburt, welche gewisslich im Worte Gottes gelehrt wird. Wir werden Kinder Gottes durch die Wiedergeburt und durch den Glauben, aber wie kann das sein, wenn wir bereits Gottes Kinder sind? „Wie viele Ihn aber aufnahmen, denen gab Er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben; welche nicht von dem Geblüt, noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.“ Wie kann Gott Menschen die Macht geben, seine Kinder zu werden, wenn sie es bereits sind? Glaubet jene Lüge des Teufels nicht, sondern glaubt diese Wahrheit Gottes, dass Christus und alle, welche durch lebendigen Glauben in Christo sind, sich der Vaterschaft Gottes freuen können.

Dann lernt diese Lehre, dass in dieser Tatsache unser größter Trost liegt. In unsrer Stunde der Not, in unsrer Zeit des Kampfes lasst uns sagen: „Vater.“ Ihr beachtet, dass der erste Ruf vom Kreuz dem letzten gleicht; der höchste Ton ist dem tiefsten gleich. Jesus beginnt mit „Vater“ und endet mit „Vater.“ Rufet zum „Vater“, euch in der ernsten Pflicht, in der des Vergebens, zu helfen, und rufet zum „Vater“, euch in schweren Leiden und im Tode beizustehen. Eure Hauptkraft liegt darin, dass ihr wirklich Gottes Kinder seid.

Lernet die nächste Lehre, dass das Sterben das Heimgehen zu unsrem Vater ist. Ich sagte vor nicht langer Zeit zu einem alten Freunde: „Der alte Bruder So-und-so ist heimgegangen.“ Ich meinte damit, dass er gestorben sei. Er sagte: „Ja, wo sollte er auch anders hingehen?“ Das war eine weise Frage: Wo sollte er anders hingehen als heim? So unser Tagwerk vollbracht ist, wo sollten anders hingehen als heim? So ist Christi nächstes Wort, nachdem Er gesagt hatte: „Es ist vollbracht!“ ganz natürlich: „Vater.“ Er hat seinen irdischen Lauf vollendet, und nun geht Er heim zum Himmel.

Lernet eine andre Lehre, nämlich: wenn Gott unser Vater ist und wir unser Sterben als ein Heimgehen betrachten, weil wir zu Ihm gehen, dann wird Er uns aufnehmen. Beachtet, wie Stephanus unter dem Steinregen rief: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf.“ Lasst uns, wie wir auch sterben mögen, dies zu unsrer letzten Empfindung, wenn nicht zu unsrem letzten Ausspruch machen: „Vater, nimm meinen Geist auf.“ Wird unser himmlischer Vater seine Kinder nicht aufnehmen? Das ist die Lehre, die wir von diesem letzten Ruf vom Kreuze lernen: Die Vaterschaft Gottes und alles, was den Gläubigen daraus erwächst.

Zweitens, lasst uns die Pflicht üben.

Diese Pflicht scheint uns zunächst Ergebung zu sein. Wenn dich irgend etwas bekümmert und erschreckt, so ergib dich Gott. Sprich: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“

lerne demnächst die Pflicht des Gebets. Wenn du in Angst und Pein bist, wenn du umgeben bist von bitterem Schmerz nach Seele und Leib, so bete dennoch. Wirf das „unser Vater“ nicht weg. Richte deine Rufe nicht an die Luft; klage nicht an deinem Arzte oder deiner Wärterin, sondern rufe: „Vater.“ Ruft nicht das Kind so, wenn es seinen Weg verloren hat und wird des Vaters Herz nicht von diesem Ruf gerührt? ist jemand hier, der nie zu Gott geschrien hat? Ist jemand hier, der nie „Vater“ gesagt hat? Dann, o mein Vater, gieße Deine Liebe aus in ihre Herzen und veranlasse sie, noch heute zu sagen: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“

Die nächste Pflicht ist, dass wir uns Gott im Glauben anvertrauen. Übergebet euch selbst Gott; anvertraut euch Ihm. Nimm dich jeden Morgen, wenn du dich erhebst, und lege dich in Gottes Verwahrsam, verschließe dich gleichsam in dem Kästchen der göttlichen Hut, und jeden Abend schließe dich wieder ein und lege den Schlüssel in die Hand Dessen, der dich bewahren kann, wenn das Abbild des Todes auf deinem Angesicht erscheint. Wenn du Gott vertrauen kannst, wird Gott dein Vertrauen in einer Weise belohnen, davon du noch keine Ahnung hast.

Und dann übe eine andre Pflicht: mache dir persönlich und beständig die Gegenwart Gottes recht klar. „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“ Ich weiß, Du bist hier; ich mache mir klar, dass Du hier bist, in der Zeit der Trübsal und der Gefahr, und ich lege mich selbst in Deine Hände. Ebenso wie ich mich dem Schutze eines Schutzmannes oder eines Soldaten übergeben würde, wenn mich jemand angreifen wollte, so anvertraue ich mich Dir, dem unsichtbaren Wächter der Nacht, dem unermüdlichen Hüter des Tages. Du deckst mein Haupt am Tage des Streites. Unter Deinen Flügeln habe ich Zuflucht, wie das Küchlein sich unter den Flügeln der Henne verbirgt.

Sehet also eure Pflicht. Sie besteht darin, euch Gott zu ergeben, zu Gott zu beten, euch Gott anzuvertrauen und in dem Bewusstsein der Gegenwart Gottes zu ruhen. Möchte der Geist Gottes euch helfen, solche unschätzbaren Pflichten zu üben.

Schließlich, lasst uns das Vorrecht genießen.

Zuerst lasst uns das hohe Vorrecht genießen, zu allen Zeiten der Gefahr und der Schmerzen in Gott zu ruhen. Der Doktor hat dir soeben gesagt, dass du dich einer Operation unterziehen müssest. Sprich: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“ Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich diese deine Schwäche und diese deine Krankheit vermehren und du wirst dich legen müssen und wirst vielleicht längere Zeit liegen müssen. Dann sprich: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“ Gräme dich nicht, denn das hilft dir nicht. Fürchte die Zukunft nicht, denn das nützt dir nicht. Überlass dich (es ist das dein Vorrecht) der Hut der teuren Hände, die für dich durchbohrt wurden, der Liebe des teuren Herzens, welches brach, um deine Erlösung herbeizuführen. Es ist wunderbar, welche Herzensruhe Gott einem Mann oder einer Frau in dem bedenklichsten Zustande geben kann! O, wie haben manche Märtyrer am Pfahl gesungen! Wenn ihr euren Geist Gott befohlen habt, dann habt ihr süße Ruhe zur Zeit der Gefahr und der Schmerzen.

Das nächste Vorrecht ist das eines kühnen und freudigen Vertrauens zur Zeit des Todes oder in der Gefahr des Todes. Ich wurde am vorigen Donnerstag-Abend veranlasst, über diesen Text nachzudenken, da ich ihn selbst oft gebrauchte. Ich werde diesen Abend nie vergessen. Von diesem Hause bis zu meinem Hause schien der Weg eine Feuerfläche zu sein, und je weiter ich kam, desto mächtiger wurden die Blitze, und als ich zum Leigham Court Road kam, schien der Blitz wie ein Sperrbaum vom Himmel zu kommen, und als ich endlich die Spitze des Berges erreichte, kam ein erschütternder Donnerschlag und es ergoss sich ein Hagelstrom, den ich zu beschreiben nicht versuchen möchte, weil ihr annehmen könntet, dass ich übertreibe. Aber da fühlte ich sowohl, wie mein Freund neben mir, dass wir schwerlich erwarten konnten, lebendig nach Hause zu kommen. Der Sturm hatte seinen Höhepunkt erreicht. Es schien uns, als ob wir auf allen Seiten von einem elektrischen Strom umgeben waren und Gottes Arm schien entblößt und kriegsfertig zu sein. Da fühlte ich: „Jetzt geht’s wahrscheinlich heim,“ und ich befahl Gott meine Seele, und – wenngleich ich nicht sagen kann, dass ich besonderes Vergnügen an den Donnerschlägen und dem Zucken der Blitze empfand – von dem Augenblick an fühlte ich mich ebenso ruhig, wie ich mich jetzt fühle, vielleicht noch etwas ruhiger, als ich mich angesichts so vieler Leute jetzt fühle; glücklich bei dem Gedanken, dass ich im nächsten Augenblicke mehr erkennen werde, als ich während der ganzen Zeit auf Erden lernen konnte, und in einem Augenblick mehr sehen werde, als ich zu sehen hoffen konnte, wenn ich noch ein ganzes Jahrhundert hier geblieben wäre. Ich konnte zu meinem Freunde nur sagen: „Wir wollen uns Gott anvertrauen; wir wissen, dass wir auf unsrem Wege unsre Pflicht tun und es ist bei uns alles in Ordnung.“ So konnten wir uns in der Aussicht, bald bei Gott zu sein, miteinander freuen. Wir sind nicht im feurigen Wagen heimgeholt worden; wir sind noch einige Zeit verschont geblieben, um unser Lebenswerk fortzusetzen; aber mir ist klar, wie süß es ist, mit allem abgeschlossen zu haben und keinen Wunsch, keinen Willen, kein Wort zu haben, als gleichsam das Herz zu nehmen und es dem großen Hüter zu übergeben und zu sagen: „Vater, sorge Du für mich. So lass mich leben; so lass mich sterben. Ich habe hinfort keinen Wunsch mehr; es geschehe, wie es Dir gefällt. Ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“

Dieses Vorrecht ist nicht nur, Ruhe in Gefahren und Vertrauen angesichts des Todes zu haben; es ist auch voll vollkommener Freude. Geliebte, wenn wir wissen, wie wir uns den Händen Gottes anbefehlen können, welch einen Platz nehmen wir dann ein? In Gottes Händen! Darin sind die Myriaden von Sternen; darin ruht das ganze Universum; Gottes Hand trägt seine ewigen Säulen und sie fallen nicht. Wenn wir in Gottes Hände gelangen, sind wir da, wo alles ruht, und wir das Heim und die Glückseligkeit erhalten. Wir sind aus dem Nichts des Geschöpfes in die Allgenugsamkeit des Schöpfers übergegangen. O eilt, dorthin zu kommen, geliebte Freunde, und lebet fortan in den Händen Gottes!

„Es ist vollbracht.“ Ihr habt noch nicht vollbracht, aber Christus hat vollbracht. Es ist alles geschehen. Was ihr zu tun habt, ist nur, euch anzueignen, was Er bereits für euch vollbracht hat, und das den Menschenkindern durch euer Leben zu zeigen. Und weil alles vollbracht ist, so sprich: „Nun wende ich mich zu Dir, Vater. Mein Leben soll hinfort ein Leben in Dir sein. meine Freude soll es sein, angesichts des alles und in allem vor nichts zurückzuschrecken, in das ewige Leben hineinzusterben, mich in Jehovah zu versenken und mein ganzes Wesen nur für seinen Schöpfer da sein zu lassen und nur des Schöpfers Herrlichkeit zu offenbaren. O, Geliebte, beendet diesen Tag und beginnt den nächsten Morgen mit: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“ Der Herr sei mit euch allen! O, wenn ihr nie gebetet habt, so helfe euch Gott um Jesu willen, jetzt anzufangen zu beten! Amen.

„Da Dein: „Es ist vollbracht!“
Vom Kreuz hernieder tönte,
Da Deines Todes Macht
Die Welt mit Gott versöhnte,
Indem der Vorhang riss,
Der Gott und Menschen schied:
Ward mir mein Heil gewiss;
Mir klang Dein Sterbelied.

Du gabst den edlen Geist
In Deines Vaters Hände;
Den Weg zum Himmel weist,
Gerechter! mir Dein Ende.
Einst fährt mein Geist Dir nach
Hinauf ins Vaters Haus,
Und Sündenschmerz und Schmach
Und Not und Tod ist aus.“