Wieso der biblische Glaube keine menschliche Willensentscheidung ist (Dr. Martin Erdmann)
Einer der wesentlichen Gründe, wieso die Lehre der Rechtfertigung allein durch den Glauben in den evangelikalen Gemeinden unserer Zeit nicht mehr so gelehrt wird, wie es der biblischen Wahrheit entspricht, liegt daran, dass eine völlig falsche Vorstellung des biblischen Glaubens vermittelt wird. Denn die Formulierung „Rechtfertigung durch den Glauben allein“ wird erst im schriftgemäßen Sinne verstanden, wenn man den Glauben als ein freies Geschenk Gottes ansieht, das er nur seinen Auserwählten zu der von ihm bestimmten Zeit gibt. Erst mittels der übernatürlichen Wiedergeburt wird ein Mensch dazu befähigt, das Heil dank des stellvertretenden Sühneopfers Jesu Christi im Glauben anzunehmen. Deshalb kann der biblische Glaube keine Willensentscheidung des Menschen sein, die dieser jederzeit treffen kann. Wenn es so wäre, müsste die Ausübung des Glaubens eine natürliche Befähigung sein; doch sie ist es nicht. Kein Mensch ist von Natur aus dazu imstande, sich Gott vertrauensvoll zuzuwenden. Das Einzige, was der Sünder zu tun vermag, ist, den Schöpfer Himmels und der Erde als Feind anzusehen (Röm. 1,30; 8,7; Jak. 4,4) und ihm den Rücken zurückzukehren (Röm. 1,18ff.). Der Apostel Paulus spricht in Röm. 3,11-12 eine wichtige Wahrheit aus: es gibt keinen Menschen, der aus eigener Motivation heraus nach Gott fragt, auch nicht einen einzigen. Wenn jemand aber vom Heiligen Geist kraft der Wiedergeburt neues geistliches Leben empfangen hat (Joh.3,5-8; Tit. 3,5; 2.Tim. 1,9), ist er dazu in die Lage, „das helle Licht der Heilsbotschaft von der Herrlichkeit Christi“ (2. Kor. 4,4) zu sehen. Erst dann kann er an den Sohn Gottes als seinen persönlichen Erlöser glauben und möchte nichts mehr anderes tun. Bei diesem Vorgang ist sein ganzes Wesen – sein Denken, Wollen und Empfinden – beteiligt. Zum ersten Mal versteht er die Bedeutung des Heilswerkes Christi im Evangelium, erkennt sich selbst als ein verdammungswürdiger Sünder und wendet sich an Gott in aufrichtiger Buße (Eingeständnis der eigenen Sündhaftigkeit) und im vertrauensvollen Glauben (Annahme der göttlichen Vergebung).
Röm. 3,10-12.18: 10 wie es in der Schrift heißt: »Es gibt keinen Gerechten, auch nicht einen; 11 es gibt keinen Einsichtigen, keinen, der Gott mit Ernst sucht; 12 sie sind alle abgewichen, allesamt entartet; keiner ist da, der das Gute tut, auch nicht ein einziger.« […] 18 »Keine Furcht Gottes steht ihnen vor Augen.«
Hermann Menge-Übersetzung
—
Eine ausführlichere Erklärung steht in meinem Buch Siegeszug des Fortschrittsglaubens (Neufassung, Band 1: 2.1.6 Umfassendes Prinzip der allein wirksamen Gnade Gottes):
Da die Lehre der freien Rechtfertigung durch Glauben das Sturmzentrum in der großen Kontroverse zwischen den Reformatoren und den Katholiken in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war, erscheint es nur natürlich, sie als das Herz der reformatorischen Theologie anzusehen. Dies entspricht jedoch nicht unbedingt der ganzen Wahrheit. Die Reformatoren bewegten die Frage, ob das Christentum eine Religion des völligen Vertrauens auf Gott ist im Hinblick auf die Errettung und aller dazu notwendigen Dinge oder eine Religion des Selbstvertrauens und der eigenen Anstrengungen. Im Suchen nach einer Antwort richteten die Reformatoren ihr Denken auf die Aussage des Paulus, dass das völlige Heil des Sünders allein auf der freien und souveränen Gnade Gottes beruht. Der Sünder ist völlig hilflos in seinen Sünden und wird mittels der freien, bedingungslosen, unwiderstehlichen Gnade Gottes errettet. Die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben war den Reformatoren wichtig, weil sie das Prinzip der souveränen Gnade bewahrte. Aber sie drückte für die Reformatoren eigentlich nur einen Aspekt dieses Prinzips aus, und dieser war nicht einmal der wichtigste. Die Souveränität der göttlichen Gnade kam in ihrem Denken auf einer viel tiefgründigeren Ebene zum Ausdruck, nämlich in der Lehre der monergistischen Wiedergeburt – der Lehre also, die besagt, dass der Glaube, der Christus annimmt, um gerechtfertigt zu werden, selbst ein freies Geschenk eines souveränen Gottes ist. Die Reformatoren kamen zum Schluss: Wenn ein Mensch von Gott gerufen wird, schenkt er ihm den Glauben durch die geistliche Wiedergeburt. Gott erweckt den Menschen aus dem Tod der Sünde durch seinen lebensspendenden Geist und führt ihn zum Glauben. Dann rechtfertigt er den bußfertigen Sünder um Christi willen. Kurz und bündig ausgedrückt: Gott ist der Geber sowohl des Glaubens als auch der Rechtfertigung. Die Rechtfertigung durch Glauben allein ist also eine Wahrheit, die erklärt werden muss. Das Prinzip des „sola fide“, also des Glaubens allein, wird nicht richtig verstanden, bis es in dem umfassenderen Prinzip der „sola gratia“, also der Gnade allein, eingebettet gesehen wird. Einen Ausweg aus dieser geistlichen Misere zu finden, ist auch heute wie zu Luthers Zeit möglich.